1922 entwickelte der 20-jährige Peter Keler die Bauhaus-Wiege aus dem symbolhaft gewordenen Form- und Farbenkanon des Bauhauses. Angeregt von dem Unterricht seines Lehrers Wassily Kandinsky nutzte Keler die Grundformen Kreis, Quadrat und Dreieck sowie die Grundfarben Rot, Gelb, Blau in puristischer Weise für sein Objekt.
Aber es wäre nicht das Bauhaus gewesen, wäre nur die Ästhetik und nicht auch die Funktion mitbedacht worden. Was auf den ersten Blick vielleicht etwas befremdlich und für Eltern durchaus gefährlich anmuten mag sind die durchgehenden Kreise, die die Vorstellung eines Kontinuums und dementsprechend eines ungewollten Überschlags auslösen könnten. Tatsache ist jedoch, dass der Schwerpunkt sehr tief am Boden liegt was das Verharren bzw. Zurückkehren in die Mittelposition forciert und somit die Stabilität unterstützt. (Auf welche Gedanken ein älteres Geschwisterkind in einer Auto- und damit Lenkraddominierten Welt kommen mag, muss man sich nicht unbedingt ausmalen.)
Die Seitenteile der Wiege sind von einem langen Rechteck durchbrochen, welches sich aus drei Quadraten zusammensetzt. Hierfür wird Flechtwerk als Material verwendet. Sinn dieser Material- und Formunterbrechung war die Erzeugung einer „natürlichen Air-Condition“: durch das Hin- und Herschaukeln der Wiege entsteht aufgrund der Löchrigkeit des Materials eine sanfte Luftverwirbelung, die dem Kind Kühlung und Frischluft zuführt.
Das Bauhaus existierte in einer Zeit in der Materialknappheit und ökonomische Zwänge zu einem sehr bewußten und auch reduzierten Umgang mit Material führten. Es waren die Bedingungen der Zeit die die Gestaltungen maßgeblich mitbestimmten.
Auf heute übertragen stellen sich ähnliche Probleme wenn auch mit anderen Ursachen:
Unsere Konsumgesellschaft lebt auf Kosten der Natur und nachkommender Generationen. Doch die steigende Bedeutung von Nachhaltigkeit und Konsumethik in den vergangenen Jahren ist Beleg für einen Bewusstseins- und Wertewandel.
Dieses Zitat einer jungen Studentin, Giulia Nemmert, könnte einem „Bauhaus-heute“ entstammen.
Giulia Nemmert hat sich in ihrer Bachelor-Abschlussarbeit ebenfalls mit dem Thema „Wiege“ befasst. Parallel zur Bauhaus-Wiege ist die Verwendung des Flechtwerks. In Kombination mit dem Stahlrohrrahmen in Nemmerts Modell tauchen Impressionen zu entsprechenden Bauhaus Freischwinger-Modellen auf.
Aber der Bezug zum Bauhaus ist ein hier hergestellter und spielte keine Rolle für Giulia Nemmert. Interessant ist an dieser Stelle eher wie sich ähnliche Ideen in einem zeitgemäßen Gewand manifestieren. Giulia Nemmert kommt durch andere Parameter zu einer ästhetisch sehr überzeugenden und in ihrer ganzheitlich ausgelegten, global- und generationsverantwortlichen Denkweise beeindruckenden Idee:
Eine Kinderwiege wird im Durchschnitt genutzt, bis das Kind 1-2 Jahre alt ist. Oft ist nach dieser kurzen Zeit bereits das ‚Produktlebensende‘ erreicht und die Wiege wird weggeworfen.
Inspiriert vom natürlichen Cradle-to-Cradle-Prinzip wird der Produktlebenszyklus nun durch ein zweites Leben verlängert. Sobald die Wiege ausgedient hat, kann man sie mit einem Handgriff zu einem Sessel umbauen. Dieser Sessel kann von der gesamten Familie zum spielen und entspannen genutzt werden, bis die Eltern ein weiteres Kind bekommen oder das Kind selbst erwachsen geworden ist und seine eigene Familie gründet.
Wenn dennoch eines Tages das Lebensende des Produktes erreicht sein sollte, lassen sich alle metallischen Bestandteile recyceln. Alle anderen Komponenten wie Rattan, Holz, Lackierung, Polster und Bezüge sind vollständig kompostierbar.
Cradle-to-Cradle: Eine Kreislaufwirtschaft der Wiederverwertung als Basis für die Gestaltung einer „cradle“ zugrunde zu legen ist mehr als ein schönes Wortspiel. Es zeugt vom Wachsen einer Haltung, die auch aber auch mehr will als schöne Formen. Es ist eine Haltung für ein Design als Wiege für eine Zukunft des blauen Planeten und seiner Bewohner.
Womit sich der Kreis zum Bauhaus schließt …
Eine ganz pragmatische Frage stellt sich mir am Schluss aber doch:
Wiegen schaukeln üblicherweise von rechts nach links bezogen auf die Körperachse des Babys. Das entspricht den schlaffördernden Schaukel- oder Wiegebewegungen in den Armen der Mutter. Was passiert wenn die Bewegung statt dessen von oben nach unten geht wie es in dem obigen Modell der Fall ist? Wirkt sich diese veränderte Bewegungsrichtung auf das Kind und sein Wohlbefinden aus? Wie reagieren Magen und Gleichgewichtsorgan auf diese Form der Schaukelbewegung? Gibt es einen unterschiedlichen „Wohlfühleffekt“ der beiden Bewegungsrichtungen für das Kind und damit verbunden auch unterschiedliches Ruhe- bzw. Schlafverhalten? Es wäre interessant herauszufinden ob die Bewegungsrichtungen des Schaukelns im Liegen einen Einfluss auf das kindliche Befinden haben, nicht dass letztlich doch Idee und Ästhetik über die Funktion dominieren – wie bei den Kreisformen von Keler.
COCUNA von Giulia Nemmert
giulia@nemmert.eu
Entdeckt bei der Ausstellung „Natur als Vorbild“. Abschlussarbeiten des Bachelor-Studiengangs Industriedesign an der OTH Regensburg.
Ausstellung in der Städtischen Galerie im Leeren Beutel, Regensburg
20.3. – 5.4. 2015.
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Zur obigen Frage hier gleich die Antwort:
Die Schaukelbewegung von oben nach unten ENTSPRICHT der natürlichen Wiegebewegung der Mutter! Giulia Nemmert hat bereits ein Jahr zuvor ein erstes Wiegemodell entwickelt und sich dabei genau an dieser natürlichen Bewegungsrichtung orientiert!
Hier ihre Animation zur Veranschaulichung:
Dementsprechend wurde bereits das erste Modell in die entgegengesetzte Richtung entwickelt als die meisten Wiegen:
Um die Wiege im Schwung zu stabilisieren und die Frequenz des Schwingens möglichst lange aufrecht zu erhalten, ist unten am Korb ein Pendel befestigt.
Mehr Information zu diesem Modell, die deutlich macht wie viel hier vor-, be- und nachgedacht wurde findet sich hier. Dieses Wiegenmodell ist bereits auf dem Markt und bei der Firma Leipold erhältlich.
Dies wäre auch dem neuen Modell zu wünschen.
An dieser Stelle jedenfalls: Gratulation zu der wunderbaren Arbeit und guten Erfolg damit!
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